Jens Mittelbach (@jmiba.bsky.social)

Deutschland am Scheideweg: Macht der Bundesinnenminister das Land sturmreif für Rechtsaußen? Christian Schwägerl: Deutschland am Scheideweg: Macht Dobrindt das Land sturmreif für Rechtsaußen?Kommentar: Der Bundesinnenminister setzt die beispiellose Lügenkampagne gegen die Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht fort. Das bedroht nicht nur den Fortbestand der Regierungskoalition, sondern die Grundfesten des Landes.Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).In der Geschichte von Ländern gibt es große Ereignisse mit großen Folgen, wie das Ende des Zweiten Weltkriegs oder den Fall der Berliner Mauer. Es gibt aber auch kleine Ereignisse mit großen Folgen.Die misslungene Wahl einer Richterin am Bundesverfassungsgericht mag wie ein kleines Ereignis anmuten. Schließlich werden, anders als in den USA, in Deutschland Verfassungsrichterinnen und –richter, sobald sie gewählt sind, zu mehr oder weniger anonymen Bestandteilen einer weithin mit höchstem Respekt behandelten Institution. Das hat Deutschland im Kontrast zu den USA mit ihrer Frontstellung von durch Republikaner oder Demokraten ernannten allseits bekannten Richterpersönlichkeiten noch immer sehr gutgetan. Selbst ein früherer CDU-Ministerpräsident wie Peter Müller machte diese Verwandlung durch, die von ihm mitverfassten Urteile wurden nie durch die enge Linse der Parteipolitik gesehen.Eine perfide orchestrierte LügenkampagneDie Umstände, unter denen die Wahl der Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht im ersten Anlauf an fehlenden Stimmen aus der CDU/CSU gescheitert ist und unter denen sich nun klärt, ob die Union die von der SPD nominierte Kandidatin doch noch mitträgt und diese trotz Verunglimpfungen und Morddrohungen an ihrer Kandidatur festhält, haben aber das Zeug dazu, zur wichtigen Wegmarke in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu werden.Denn im Kern geht es nicht um die Frage, ob Frauke Brosius-Gersdorf für das Amt der Bundesverfassungsrichterin geeignet ist. Ihre juristische und wissenschaftliche Laufbahn spricht ebenso eindeutig dafür wie der Umstand, dass Bundeskanzler Friedrich Merz ihre Kandidatur bis kurz vor der geplanten Abstimmung im Bundestag mitgetragen hat.Im Kern geht es um die Frage, ob sich die CDU/CSU von einer perfide orchestrierten Kampagne – in der Rechtsextreme aus der AfD, auf die Wertschöpfung aus selbst fabrizierten Lügen spezialisierte Portale und radikale Abtreibungsgegner auch aus der katholischen Kirche kooperiert haben – nicht nur vor sich her treiben lässt, sondern ob sie sich jetzt aktiv exakt derselben Mittel und Werkzeuge bedient. Das hieße, den Rechtspopulisten alle Türen und Tore zu öffnen und als Partei einen fundamentalen Schwenk nach Rechtsaußen zu vollführen.Ein Erzbischof rudert zurückIn einer bisher beispiellosen Kampagne setzten vor der geplanten Abstimmung im Bundestag Rechtspopulisten Politikerinnen und Politiker der CDU/CSU unter Druck. Zur Kampagne gehörte, das böse Wort „Plagiat“ mit dem Ziel der Irreführung in Umlauf zu bringen – wohl wissend, dass dabei auch am fälschlicherweise Beschuldigten immer etwas hängen bleibt. Die Behauptungen zu Positionen der Kandidatin aus den Reihen der Rechtspopulisten und ihrer medialen Portale haben sich inzwischen als erstunken und erlogen erwiesen. Doch eine schockierend große Zahl von Unionsabgeordneten machte sich zu willigen Helfern der Kampagne, sodass die Abstimmung mangels Mehrheit verschoben wurde.Die Rechtswissenschaftlerin Frauke Brosius-Gersdorf von der Universität Potsdam.Die einzig verantwortungsvolle und seriöse Reaktion der Partei- und Fraktionsführung der CDU/CSU wäre es nun, die Lügenkampagne von Rechtsaußen gegen Frauke Brosius-Gersdorf als solche zu benennen, sich schützend vor die Kandidatin zu stellen und in den eigenen Reihen eine Regierungsmehrheit für ihre Ernennung zu organisieren. Der Bamberger Erzbischof Gössl rudert nun mit den Worten zurück, dass er zu den Positionen der Kandidatin zur Frage der Abtreibung „falsch informiert“ gewesen sei. Hat die Unionsführung das Format, dies ebenfalls einzugestehen und das in den Zehn Geboten verbotene „falsche Zeugnis“ zu widerrufen?Der Bundesinnenminister greift zur Täter-Opfer-UmkehrDanach sieht es leider nicht aus. Während Kanzler Merz und der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn versuchen, den Vorgang zu bagatellisieren, setzen Forschungsministerin Dorothee Bär und Innenminister Alexander Dobrindt die Kampagne fort. „Wir haben lauter mündige Abgeordnete, und wenn die sagen, ich kann mit meinem Gewissen Frau Brosius-Gersdorf nicht wählen, dann akzeptiere ich das, dann respektiere ich es, und dann erwarte ich aber auch von der Kandidatin, dass sie mal für sich selbst überlegt, ob sie die Richtige ist“, sagte Bär in einer Talkshow und beteiligte sich damit an der absurden Verdrehung. Denn dafür offen zu sein, die seit langem geltende Praxis straffreier Abtreibungen bis zur 12. Woche gesetzlich zu formulieren, ist kein Skandal, sondern eine in der politischen Mitte in Deutschland weit verbreitete Ansicht. Jedenfalls können dieselben Unionsabgeordneten es mit ihrem Gewissen vereinbaren, mit einer Partei zu koalieren, die den Paragrafen 218 streichen will.Noch perfider als Bär äußert sich nun aber Bundesinnenminister Dobrindt, und das hat wegen seines Amts besonderes Gewicht. Frau Brosius-Gersdorf mache sich bestimmt Gedanken, wie sie mit dieser Situation umgehe, sagte er im Interview der „Augsburger Allgemeinen“ und fuhr fort: „Als Bewerberin für eine Position im Verfassungsgericht hat man wohl kaum die Intention, die Polarisierung in der Gesellschaft weiter zu befördern.“Man muss sich das in aller Bitterkeit auf der Zunge zergehen lassen: Ausgerechnet der Bundesinnenminister macht damit eine renommierte Rechtswissenschaftlerin dafür verantwortlich, dass Rechtsextremisten eine Lügenkampagne gegen sie inszeniert haben und sie mit Morddrohungen und Beleidigungen überziehen. Das ist Täter-Opfer-Umkehr pur – und ein Trick aus der Werkzeugkiste von Rechtspopulisten, wie ihn auch US-Präsident Donald Trump gerne einsetzt. Dobrindts aktuelle Aussage spiegelt wider, wie nahe Deutschland, während die breite Öffentlichkeit hier gerne beim Blick auf die USA überheblich die Nase rümpft, schon selbst an dortigen Verhältnissen ist.Dobrindt verhält sich als Innenminister ohnehin bereits länger wie ein Trump im Westentaschenformat: Er kupferte direkt von ihm ab, als er martialisch versprach, „gleich am ersten Tag“ hart gegen Immigranten vorzugehen; den Haftbefehl des Internationalen Gerichtshofs gegen den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu tat er mit den Worten ab, dieser sei „nur eine Ansicht“; den Afghaninnen und Afghanen, die während des Bundeswehreinsatzes in ihrem Heimatland für Deutschland ihr Leben riskiert haben, entzieht er jegliche Unterstützung; den Stopp der Zurückweisung von Immigranten an den Grenzen, den das Verwaltungsgericht Berlin verfügt hat, ignorierte er einfach.Setzt Dobrindt sich durch, rückt die Deutungshoheit nach RechtsaußenMit Dobrindts Aussagen über Frauke Brosius-Gersdorf ist eine Grenze erreicht. Setzt er sich mit seiner Linie durch, wird die Rechtswissenschaftlerin entweder ihre Kandidatur zurückziehen oder bei der Abstimmung keine Mehrheit bekommen. Das vermeintlich kleine Ereignisse hätte unabsehbar große Folgen. Denn ab diesem Tag würde die Deutungs- und Handlungshoheit in Deutschland nicht mehr Bundeskanzler Merz und seiner Regierungskoalition gehören, sondern einem rechtspopulistischen Mob, der diese Macht zu nutzen wissen wird.Will sich Bundeskanzler Merz wirklich einen Innenminister leisten, der eine Rechtsaußen-Lügenkampagne ohne mit der Wimper zu zucken fortsetzt und die Handlungsfähigkeit der Regierung sabotiert? Einen Mann, den man sich bestens in einer aktuellen Version von „Babylon Berlin“ als denjenigen vorstellen kann, der den Rechtspopulisten trickreich den Weg zur Macht ebnet? Und will sich die SPD derart erniedrigen lassen, nur um an der Macht zu bleiben? Das sollte undenkbar sein, wollen die Sozialdemokraten nicht ebenfalls vor Rechtsaußen kapitulieren.Einhegen kann Dobrindt nur Kanzler MerzAus der Causa Brosius-Gersdorf ist mit dem Interview des Innenministers in der „Augsburger Allgemeinen“ eine Causa Dobrindt geworden. Im günstigsten Fall spielt er mit dem Feuer und will die aktuelle Lage opportunistisch für sich ausnutzen. Dann wäre er hoffnungslos naiv und kurzsichtig, was man in diesen Zeiten in diesem Amt nicht sein darf. Im schlimmsten Fall will sich Dobrindt aber als Trojanisches Pferd für eine Machtübernahme von Rechts andienen.Eine Alice Weidel und ein Björn Höcke klingen rein akustisch gefährlicher als Dobrindt. Doch ob naiv oder kalkulierend: Der Bundesinnenminister ist angesichts seiner Rolle und Machtfülle aktuell der gefährlichste Politiker Deutschlands. Einhegen kann ihn nur einer: der Bundeskanzler. Das vermeintlich kleine Ereignis einer Richterinnenwahl hat ansonsten das Zeug, Merz’ Regierungskoalition zu sprengen, die eigentlich angetreten ist, durch gemeinsames Regieren den Vormarsch der AfD aufzuhalten. Mit den aktuellen Ereignissen erhärtet sich die Vermutung, dass Kanzlerkandidaten Merz Anfang Mai im ersten Wahlgang auch zahlreiche Unionsabgeordnete die Stimme versagt haben – nämlich jene, die diesen Vormarsch eher früher als später für einen Ruck nach Rechtsaußen und eine schwarz-braune Mehrheit im Bund nutzen wollen.Nicht einmal 100 Tage nach seiner Amtsübernahme steht Merz nicht nur vor einem neuerlichen Test seiner Autorität, sondern viel mehr noch: vor einer für die Zukunft Deutschlands existenziell wichtigen Entscheidung. https://www.riffreporter.de/de/gesellschaft/dobrindt-bundesverfassungsgericht-brosius-gersdorf-demokratie-gefaehrdung