loading . . . Gegen die Relativierung des Klimanotstands â Notizen zu Kevin Anderson Ich habe Anfang dieser Woche kurz auf den Vortrag von Kevin Anderson ĂŒber die neue Form der Klima-Leugnung hingewiesen. Danach habe ich ĂŒberlegt, warum ich Andersons Positionen â auch ĂŒber diesen Vortrag hinaus â fĂŒr besonders wichtig halte und mich gefragt, wie ich das Menschen erklĂ€ren kann, die ihn gar nicht kennen. Hier ein erster Versuch.
### Kritik des klimapolitischen Mainstreams
Seit ich mich mit der Klimakrise beschĂ€ftige, ist mir Kevin Anderson immer wieder als Kritiker des klimapolitischen Mainstreams begegnet, unter anderem durch Kommentare zu den COPs (_âCabal of Oil Producersâ_ , 2023; Nick Breeze ClimateGenn, 2021, 2024) und dann vor allem durch die groĂe Untersuchung dazu, warum die bisherigen klimapolitischen BemĂŒhungen insgesamt ein groĂer Fehlschlag waren (Stoddard et al., 2021).
Bei Andersons Kommentaren zu den COPs hat mich vor allem beeindruckt, wie nĂŒchtern er analysiert, was dort tatsĂ€chlich erreicht, oder eher: nicht erreicht wurde. Seit Jahren nicht sinkende Treibhausgas-Emissionen bestĂ€tigen seine Skepsis und nicht die optimistischen Illusionen der meisten Kommentator:innen.
Die groĂe Untersuchung zu den GrĂŒnden fĂŒr das Scheitern der Klimapolitik, bei der Anderson einer der koordinierenden Autoren war, ist, soweit ich das weiĂ, die einzige gröĂere systematische Bestandsaufnahme zu diesem Thema. Die gewĂ€hlte Methode â eine Literaturanalyse durch eine Gruppe von Fachleuten â ermöglicht eine pointierte Interpretation, die sich auf ein breites Material stĂŒtzt.
Zu den Texten und Statements, die mich auf Anderson aufmerksam gemacht haben, gehört auch der Artikel âA habitable Earth can no longer afford the rich â and that could mean me and youâ (Anderson, 2023), der dem Chefredakteur der Website The Conversation zu âpolemischâ war. Er ist charakteristisch fĂŒr die politische Konsequenz Andersons, der sich auf aktuelle Daten zur Carbon Inequality stĂŒtzt. Der Eindruck des Polemischen entsteht, weil er diese Daten nicht verharmlosend interpretiert.
FĂŒr Anderson hat mich auch eingenommen hat, dass sich das Tyndall Centre for Climate Change Research, dessen Direktor und stellvertretender Direktor er war, immer intensiv mit der Dekabonisierung in StĂ€dten wie Manchester und der Berechnung regionaler und lokaler CO2-Budgets beschĂ€ftigt hat.
### Der Klimanotstand ist kein Spezialthema
Ich schĂ€tze Anderson wegen seiner ungeschönten und unideologischen Aussagen. Anderson verknĂŒpft in seinen Texten Erkenntnisse aus Bereichen, deren ZusammenhĂ€nge meist nicht oder nur ungern thematisiert werden, und zieht daraus praktische Konsequenzen. Die VerknĂŒpfungen ergeben sich aus dem Wissen ĂŒber AusmaĂ, Ursachen und Besonderheiten der globalen Erhitzung und ihrer sich verschlimmernden Folgen. Die verschiedenen Aspekte der CO2-Emissionen sind so eng miteinander verbunden, dass man sie in ihren ZusammenhĂ€ngen verstehen muss, um mit dem komplexen PhĂ€nomen des Klimanotstands adĂ€quat und rechtzeitig umzugehen. Der Klimanotstand durchbricht Ă€ltere Grenzen von Disziplinen und den sozial unterschiedenen technischen, politischen, wirtschaftlichen und ethischen Dimensionen von Handlungen. Anderson respektiert diese ĂŒberkommenen Trennungen und Hierarchisierungen nicht. Er behandelt den Klimanotstand als ein politisches und öffentliches _issue_ (Marres, 2023), das sich durch seine Besonderheiten und durch sein AusmaĂ von allen bisher bekannten unterscheidet und spezifische Formen der Analyse, der Synthese und einer transdisziplinĂ€ren Praxis verlangt.
### Intensive statt extensive Synthese
Andersons Argumentationen sind exemplarisch fĂŒr ein Vorgehen, das man als _intensive Synthese_ von Erkenntnissen zum Klimanotstand bezeichnen könnte, im Gegensatz zur _extensiven Synthese_ im Stil des IPCC: Die Synthese Andersons bezieht sich auf eine scharf umrissene und spezifische Thematik, zu der auch spezifische Handlungsaufforderungen gehören. Im Zentrum dieser Thematik stehen CO2-Emissionen durch Verbrennen fossiler EnergietrĂ€ger. Bei extensiven Synthesen spielt dieses Thema zwar ebenfalls eine wichtige Rolle, ist aber in unterschiedliche thematische Schichten eingebettet, die jeweils ihren eigenen Logiken folgen, und fĂŒr die unterschiedliche Institutionen und unterschiedliche Communities von Fachleuten zustĂ€ndig sind. Dadurch werden Handlungsnotwendigkeiten und ihre bereichsĂŒbergreifenden GrĂŒnde und Folgen schwer erkennbar, zumal viele Forschende durch Selbstzensur die Konsequenzen ihrer Erkenntnisse unkenntlich machen. Handlungsnotwendigkeiten können auch â wie bei den von allen Staaten abgesegneten Zusammenfassungen der IPCC-Berichte â aus politischen GrĂŒnden verschwiegen werden.
### Themen- statt disziplingeleitete VerknĂŒpfung von Erkenntnissen
Anderson beruft sich nicht ein theoretisches oder ideologisches Gesamtkonzept. Er geht von Tatsachen aus, ĂŒber die in wissenschaftlichen Communities ein Konsens besteht. Er verknĂŒpft Daten und Analyse-Ergebnisse in einer Weise miteinander, die sich aus der besonderen Thematik des Klimanotstands ergibt. So werden bei der Untersuchung der Hindernisse fĂŒr eine adĂ€quate Klimapolitik die sozialen Gruppen, die fĂŒr den Status quo verantwortlich sind, in drei groĂe Cluster eingeteilt, â das âDavos-Clusterâ der MĂ€chtigsten in der globalen Wirtschaft, ein vor allem technisches âEnabler-Clusterâ und ein Kultur- und Lifestyle-Cluster (genannt âVogel StrauĂ und Phoenix-Clusterâ). Diese Clusterung ergibt sich aus den Analysen der Positionen innerhalb Klimathematik, sie greift nicht auf eine von dieser Thematik unabhĂ€ngige Klassifikation zurĂŒck.
### Der Klimanotstand als Thema der sozialen Gerechtigkeit
Da Anderson die Analyse der fĂŒr die CO2â und Erhitzungsthematik spezifischen Kausalketten nicht da unterbricht, wo es ĂŒblich und bequem ist, kommt er zu anderen und spezifischen Handlungsanweisungen und Forderungen, als sie oft in der Klimawissenschaft und Klimapolitik formuliert werden. Anderson vermischt dabei nicht Analyse und Werturteile, sondern zieht die Konsequenzen daraus, dass die Klimakrise ein Ergebnis von sozialer Ungerechtigkeit ist, dass sie die Ungerechtigkeit vergröĂert und dass die Chancen, sie wenigstens einzugrenzen, von der Durchsetzung sozialer Gerechtigkeit abhĂ€ngen.
Andersons Kritik setzt da an, wo ZusammenhĂ€nge und KausalitĂ€ten ignoriert oder unkenntlich gemacht werden, also fĂŒr die Thematik des Klimanotstands essentielle Verbindungen nicht berĂŒcksichtigt werden. So beruhen die Integrated Assessment Models des IPCC auf Annahmen der Mainstream-Ăkonomie, die Feedbackmechanismen des Klimasystems ausblenden und unrealistisch in Bezug auf technologische Entwicklungen (ânegative Emissionenâ) sind. Anderson sagt dazu in einem fĂŒr seinen Zugang charakteristischen Text:
> We simply are not prepared to accept the revolutionary implications of our own findings, and even when we do we are reluctant to voice such thoughts openly. Instead, my long- standing engagement with many scientific colleagues, leaves me in no doubt that whilst they work diligently, often against a backdrop of organised scepticism, many are ultimately choosing to censor their own research. (Anderson, 2015, zitiert nach https://kevinanderson.info/blog/wp-content/uploads/2015/10/For-my-website-On-the-duality-of-climate-scientists-submission-to-Nature-2015.pdf)
### AdÀquate Antworten auf den Klimanotstand und neue Klimaleugnung
Anderson zeigt immer wieder auf, welche Eigenschaften eine adĂ€quate Antwort auf den Klimanotstand haben muss: Ihre AdĂ€quatheit ergibt sich aus der GröĂe und der zeitlichen Dimension des Problems und aus seinen spezifischen Ursachen. AdĂ€quate Antworten mĂŒssen die CO2-Emissionen sicher und schnell auf Null zu reduzieren, damit die Akkumulation dieses Treibhausgases aufhört.
Nicht adĂ€quate Antworten ignorieren dagegen die Dringlichkeit, die MassivitĂ€t und den besonderen Charakter dieses Problems. Nicht adĂ€quat sind Antworten, die die extreme Ungleichheit beim Verursachen wie beim Erleiden der Konsequenzen der aktuellen und der vergangenen Emissionen nicht berĂŒcksichtigen. Nicht adĂ€quat sind auch Antworten, die die CO2-Emissionen nicht als kumulatives PhĂ€nomen behandeln und ignorieren, dass eine bloĂe Verringerung der Emissionen den Anstieg des CO2-Gehalts in der AtmosphĂ€re nicht beendet. Unter diesen Defiziten leiden vor allem die Antworten, die auf inkrementelle VerĂ€nderungen und âgrĂŒnes Wachstumâ setzen. Ebenfalls nicht adĂ€quat sind Antworten, die sich auf zukĂŒnftige Technologien beziehen, bei denen völlig unklar ist, ob, wann und mit welchen Nebenwirkungen sie zur VerfĂŒgung stehen, sowie andere Scheinlösungen, die sich statt auf die Beendigung der CO2-Emissionen und damit der fossilen Energiegewinnung auf Ersatzthemen wie die Reduktion der Methan-Emissionen oder Kompensationen von Emissionen konzentrieren.
Anderson sagt auch deutlich, warum diese nicht adÀquaten Antworten gegeben werden. Da die Ursachen und das Ausmaà der globalen Erhitzung lange bekannt sind, sind die nicht adÀquaten Antworten das Ergebnis der Interessen von Gruppen, die von fossilen Energien profitieren und die Klimakrise, ihre Ursachen und ihre eigenen AktivitÀten bewusst falsch reprÀsentieren. Diese Interessierten, denen die Tatsachen zur globalen Erhitzung bekannt sind, sind die neuen Klimaleugner. Sie leugnen die Existenz der globalen Erhitzung nicht, vernebeln aber bewusst ihren Charakter.
### Gegen die Relativierung des Klimanotstands
Ich halte Anderson darin fĂŒr exemplarisch, dass er den Klimanotstand und seine Ursachen nicht relativiert: Er erklĂ€rt ihn nicht zum Spezialfall eines allgemeineren Problems, er kritisiert alle Versuche, die Umfang und Dringlichkeit dieser Problematik zu leugnen, er wehrt sich gegen die Eingrenzung ihrer Aspekte auf ein oder auch mehrere Spezialthemen, und er rĂŒckt die Gerechtigkeits-Dimension des Klimanotstands in den Vordergrund. Zu dieser Nicht-Relativierung gehört, dass alle Lösungen zu dieser spezifischen Problematik passen mĂŒssen, dass also klar sein muss wie, wann und in welchem Umfang fossile Energien ersetzt werden und wo ĂŒberall â angefangen mit Luxusemissionen der Reichen â schnell auf sie verzichtet werden kann und muss.
### Nachweise
Anderson, K. (2015). Duality in climate science. _Nature Geoscience_ , _8_(12), 898â900. https://doi.org/10.1038/ngeo2559
Anderson, K. (2023, November 29). A habitable Earth can no longer afford the rich â and that could mean me and you â Climate Uncensored. _Climate Uncensored_. https://climateuncensored.com/1485-2/
_âCabal of Oil Producersâ : Climate Scientist Kevin Anderson Slams Corporate Capture of COP28_. (2023, December 7). Democracy Now! https://www.democracynow.org/2023/12/7/kevin_anderson_cop28
Marres, N. (2023). How to Turn Politics Around: Things, the Earth, Ecology. _Science, Technology, & Human Values_, _48_(5), 973â998. https://doi.org/10.1177/01622439231190884
Nick Breeze ClimateGenn (Director). (2021, November 4). _Inside#COP26Glasgow; Is this the ambition needed to avert disaster? Discussion Prof. Kevin Anderson_ [Video recording]. https://www.youtube.com/watch?v=5GcSxVHAxW0
Nick Breeze ClimateGenn (Director). (2024, November 27). _Professor Kevin Anderson â â⊠taking large risks with dire consequences âŠâ #cop29_ [Video recording]. https://www.youtube.com/watch?v=yULdkWpjmM0
Stoddard, I., Anderson, K., Capstick, S., Carton, W., Depledge, J., Facer, K., Gough, C., Hache, F., Hoolohan, C., Hultman, M., HĂ€llström, N., Kartha, S., Klinsky, S., Kuchler, M., Lövbrand, E., Nasiritousi, N., Newell, P., Peters, G. P., Sokona, Y., ⊠Williams, M. (2021). Three Decades of Climate Mitigation: Why Havenât We Bent the Global Emissions Curve? _Annual Review of Environment and Resources_ , _46_(1), 653â689. https://doi.org/10.1146/annurev-environ-012220-011104 https://wittenbrink.net/gegen-die-relativierung-des-klimanotstands-notizen-zu-kevin-anderson/