Harald Werner (@hawecom.troet.cafe.ap.brid.gy)

MARTIN A. SUNDENBÖCK Zu den positiv prägenden Dingen meiner Schulzeit gehören sicherlich viele Erlebnisse, die mit dem Schulchor und Schulorchester unseres Kreisstadtgymnasiums zusammenhängen. Die Teilnahme an diesen Arbeitsgemeinschaften war übrigens völlig freiwillig - und doch waren sie ohne ein Belohnungssystem und trotz sehr hoher Anforderungen geradezu überlaufen. Einmal jährlich fand eine ganze Woche lang allerdings eine Chor- und Orchesterwoche in irgendeinem unserer Schullandheime oder einer vergleichbaren Jugendherberge statt. Die dadurch versäumten Unterrichtsinhalte mussten eigenständig aufgearbeitet werden. Natürlich ist das Brisante an der Mischung von über hundert lernenden pubertierenden angehenden Künstlern (als die wir uns selbstverständlich sahen) beiderlei Geschlechts für verantwortungsbewusste Erwachsene - Lehrende und auch erziehende Eltern - nicht zu unterschätzen. Wieso es in den vielen Jahren dennoch nie zu einer ernsthaften Explosion von was auch immer kam, ist vor dem Hintergrund moderner Social-Media-Erfahrung kaum zu fassen. Vielleicht war ja das Prinzip "weniger ist mehr" verantwortlich, da meist maximal drei pädagogische Fachkräfte mitreisten - vielleicht war es aber auch eine Reihe geheimer pädagogischer Methoden und Maßnahmen, die dem rationalen Menschen ohne Kunstverstand völlig seltsam bis unsinnig erscheinen könnten, die das labile Gleichgewicht dauerhaft zu wahren halfen. Einer dieser Kunstgriffe bestand darin, den Menschen als fehlerbehaftetes Wesen zu akzeptieren. Und das mit mindestens der Zahl hundert multipliziert ergibt die Gewissheit, dass es jeden Tag einfach zu schuldhaften menschlichen Ereignissen kommen muss. Statt sich dem Stress mühsamer kriminologischer Untersuchungen zu unterziehen, wählten die Teilnehmenden deshalb täglich eine Person, die für alle derartigen Vorkommnisse verantwortlich gemacht wurde. Und niemand durfte jemals wieder dazu gekürt werden. Das war dann die oder der Universalschuldige für Alles für einen Tag. Man könnte sagen: Pfui, wie konntet ihr dieser bösen deutschen Neigung nachgeben, jemanden verantwortlich zu machen, der garantiert nicht schuldig ist, sich aber eben einfach nicht wehren kann, also einen Sündenbock zu suchen. Könnte man. Sagte ich schon, dass es sich bei den Teilnehmenden ausschließlich um phantasiebegabte - mindestens angehende - musische Künstler handelte? Die gewählten Sündenböcke waren selbstverständlich nicht Teilnehmer der Veranstaltung, gehörten auch nicht zu den Lehrenden oder Lernenden der Bildungsanstalt. Und wäre man der Sache akribisch nachgegangen, hätte sich wohl herausgestellt, dass sie niemandem bekannt waren. Aber Namen hatten sie alle. Gewählt waren sie auch: DIE UNIVERSALSCHULDIGEN. (©Harald_Werner_2025-10-24) https://loma.ml/display/373ebf56-1168-fbda-6093-1df503826002