loading . . . Ulli Lust nimmt uns in mit auf eine visuelle Zeitreise in die frühe Menschheitsgeschichte – und stellt unsere Vorstellungen von Frauenbildern in der Urzeit radikal infrage. Ihr Comic „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ wurde im Juni 2025 als erster Comic mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit der österreichischen Zeichnerin über patriarchale Projektionen.
Comiczeichnerin Ulli Lust bei der Frankfurter Buchmesse 2025. Foto: IMAGO / Manfred Segerer.
Ulli Lust, geboren 1967 in Wien, zählt zu den Vertreter:innen des „dokumentarischen Comics“ und lehrt Zeichnung an der Hochschule Hannover. Seit 1995 lebt sie in Berlin. Am 8. November eröffnet die Werkschau „Lust Jenseits des Patriarchats“ im Lovelab Dreamspace: Die Schau präsentiert großformatige Drucke und Originalzeichnungen und lädt dazu ein, Lusts künstlerische Auseinandersetzung mit Begehren, Macht und Freiheit neu zu entdecken.
## „Die Frau als Mensch“ von Ulli Lust räumt mit alten Mythen auf
**tipBerlin** Frau Lust, was war der erste Impuls für Ihr mit dem Sachbuchpreis prämierten Buch „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“?
**Ulli Lust** Die Idee begleitet mich schon lange, Geschichte interessiert mich sehr. Ich wollte das Experiment wagen, dieses komplexe Thema visuell zu erzählen – vor allem, weil die Vorstellung, Frauen seien schon immer schwach und bedürftig gewesen, eine Projektion ist. Es gibt Hinweise, dass die frühen Hominiden sehr lange in friedlichen, egalitären Gruppen lebten – nicht als Konkurrenten, sondern als Partner im Überlebenskampf.
**tipBerlin** „Die Frau als Mensch“ – warum war es Ihnen wichtig, diese Formulierung als Titel zu wählen?
**Ulli Lust** Oft denken wir bei „Mensch“ zuerst an Männer. Viele Darstellungen aus der Eiszeit zeigen aber eindeutig Frauen. Das heißt nicht automatisch, dass diese Figuren die mächtigsten Personen ihrer Gesellschaft abbilden sollten; die Vorstellung, dass ein Bild gleich eine Machtinszenierung ist, kommt eher aus einem männlich geprägten Denken in späteren Epochen. Aber: Diese Frauenfiguren wirken souverän, nicht schwach oder unterwürfig.
## Das Patriarchat ist gar nicht so alt, wie wir denken
**tipBerlin** Was können wir heute aus diesen Darstellungen lernen?
**Ulli Lust** Es klingt banal, aber in der Forschung war lange nicht selbstverständlich, dass die Darstellungen auch selbst von Frauen gemacht worden sein könnten – Selbstporträts. Auf Illustrationen sieht man oft nur Männer beim Malen oder Schnitzen. Die Frau ist das Objekt, nicht die handelnde Person. Ich finde die Figuren auch hübsch – wie sie den Bauch rausstrecken! Es hat etwas sehr Stärkendes, wenn man seinen Bauch mag und ihn nicht einziehen muss.
**tipBerlin** Die Gesellschaft damals war also nicht vom Patriarchat durchzogen – wann änderte sich das?
**Ulli Lust** Vermutlich so um 3.000 v. Chr., mit dem Entstehen der ersten Königreiche. Da beginnt die Machtinszenierung – männlich, hierarchisch. Ich persönlich würde sagen: Wir Frauen wurden mindestens 2.000 Jahre lang einer kulturellen Gehirnwäsche unterzogen. Auf diese vermeintlich „natürlichen“ Rollenbilder berufen sich bis heute die größten Arschlöcher.
**tipBerlin** Warum eignet sich das Medium Comic als Sachbuch?
**Ulli Lust** Meine Form ist der dokumentarische Comic, das heißt, ich sehe mich als eine Art visuelle Übersetzerin. Ich rekonstruiere, was ich selbst gelernt und verstanden habe, und nehme die Leser:innen mit. Das macht Einfühlung möglich. Ich habe als Comiczeichnerin ein extrem wirkungsvolles Werkzeug, um auch abstrakte Dinge verständlich zu machen. Zum Beispiel zeige ich bildlich, wie riesig der Zeitraum von 30.000 Jahren ist – im Vergleich zu den letzten 2.000 oder 3.000 Jahren, die extrem männerfixiert waren.
> **Wir Frauen wurden mindestens 2.000 Jahre lang einer kulturellen Gehirnwäsche unterzogen. Auf diese vermeintlich „natürlichen“ Rollenbilder berufen sich bis heute die größten Arschlöcher**
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> Comiczeichnerin Ulli Lust
**tipBerlin** Sie folgen nicht nur der Spur der Frauen am Anfang der Geschichte, sondern schlagen auch Bögen zu heutigen indigenen Kulturen, etwa in Botswana oder den USA. Gerade die Darstellung dieser Communities erfordert sicher besondere Sensibilität, oder?
**Ulli Lust** Ja, absolut. Es ist tragisch: Da lebt ein Volk seit 30.000 Jahren in einem bestimmten Zusammenhang, und heute werden diese Menschen zwangsumgesiedelt, jahrtausendealte Lebensmodelle werden zerstört. Die Rohstoffe in den Naturreservaten sind offenbar wichtiger.
„Die Frau als Mensch“ von Ulli Lust. Foto: Reprodukt
**tipBerlin** Sie arbeiten gerade an einer Fortsetzung. Was dürfen wir von Teil zwei erwarten?
**Ulli Lust** Ich will noch mehr zeigen, wie die Menschen damals gelebt haben. Dabei greife ich animistische Weltbilder auf – die Vorstellung, dass Pflanzen und Tiere eine Seele besitzen. Wenn man Lebewesen eine Seele zugesteht, begegnet man ihnen mit mehr Respekt. Unsere Kultur hat alles zur Sache erklärt und glaubt, man könne damit machen, was man will.
## Kann Comiczeichnen jede:r lernen?
**tipBerlin** Wie kamen Sie zum Zeichnen?
**Ulli Lust** Ich war in meiner bäuerlich geprägten Familie die mit der Fantasie, wollte immer etwas mit Geschichten machen. Mit 20 bekam ich einen Sohn und zeichnete für ihn Kinderbücher. Später, mit 28, bin ich nach Berlin gekommen, um hier Zeichnung zu studieren. Da gab es gerade eine lebendige, alternative Comicszene – das hat mich inspiriert. Ich war kein klassischer Comic-Fan und hätte früher nie gedacht, dass ich überhaupt in der Lage wäre, so viele Bilder zu zeichnen. Aber ich habe es gelernt, mit viel Übung.
**tipBerlin** Also: Zeichnen ist erlernbar?
**Ulli Lust** Absolut! Das ist kein Supertalent. Ich bin kein Genie, das aus dem Nichts zaubert. Ich habe sehr hart gearbeitet und viel geübt, um dahin zu kommen. Es ist wie Tanzen: Man braucht Muskulatur.
**tipBerlin** Zeichnen Sie lieber analog oder digital?
**Ulli Lust** Analog. Ich brauche nur Stift, Papier, Licht. Koloriert wird digital – aber meine Grundarbeit mache ich lieber mit der Hand.
**tipBerlin** Was lesen Sie selbst zurzeit gern?
**Ulli Lust** Früher historische Romane, heute fast nur noch Sachbücher. Ein Lieblingsbuch: Gewalt und Mitgefühl von Robert Sapolsky. Er zeigt, dass Menschen über Jahrtausende in friedlichen Gemeinschaften lebten und die Fähigkeit besitzen, zu vertrauen. Und ich finde: Das merkt man bis heute – etwa, wenn bei einer Bahnpanne plötzlich alle miteinander reden und kleine Gemeinschaften bilden. Das gibt mir Hoffnung.
* **Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte** von Ulli Lust, Reprodukt, 256 S., 29 €
* **Werkschau: Ulli Lust** **–** **Lust jenseits des Patriarchats** Lovelab Dreamspace, Pappelallee 25, Prenzlauer Berg, Vernissage: Samstag, 8.11.25, 11–18 Uhr, mehr Info
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